150 Jahre Pfarrkirche St. Gertrud in Dingelstädt
Vortrag von Ewald Holbein im Jahre 2006
In diesem Jahr können wir den 150 Geburtstag unserer Pfarrkirche St. Gertrud – oder wie die Dingelstädter meistens sagen – der Großen Kirche, feiern.
Es ist nicht der erste Kirchenbau, der an dieser Stelle steht. In den schriftlichen Quellen sind zwei Vorgängerbauten erwähnt – da aber Dingelstädt wesentlich älter ist, kann man mit Sicherheit von weiteren Kirchen an diesem Standort ausgehen. Nach Dr. Bernhard Opfermann bestand die Urpfarrei des 9. – 10. Jahrhunderts bei der Martinskirche des später untergegangen Dorfes Kirchberg, also auf dem Kerbschen Berg. Diese Pfarrei wurde etwa im 12.-13. Jahrhundert zunächst nach Kefferhausen und dann nach Dingelstädt verlegt.
Als 1688, bei dem großen Brand, die Dingelstädter Pfarrkirche vollständig nieder brannte, wurde als Baujahr dieser untergegangenen Kirche das Jahr 1591 angegeben. Direkte Quellen zu diesem ersten erwähnten Kirchenbau sind mir nicht bekannt.
Nach diesem Brand ging man an den Neubau der Kirche. Es war eine kleine barocke Kirche, die in Ost-West-Richtung stand. Das Chor mit dem Eingang zur Sakristei befand sich am östlichen Ende, ein sehr schlanker Turm – wie er auch auf der bekannten Zeichnung von Duval zu sehen ist – am westlichen Ende. Die Kirche war sehr schmal, sie hatte neben dem Hauptaltar nur einen Nebenaltar. Der Haupteingang befand sich in der südlichen Längsseite der Kirche. Ringsum die Kirche war der Kirchhof angelegt, auf dem bis zum Jahre 1827 Beerdigungen stattfanden. Zwischen dem Friedhof und der heutigen Geschwister-Scholl-Straße – die damals als Lange Straße bezeichnet wurde – befand sich bis zum Jahre 1856 noch die Knabenschule mit der Gemeindeschenke, der Schöppenstube und dem Gefängnis. Dieses Gebäude wurde erst nach der Fertigstellung der jetzigen Kirche abgerissen, und der Kirchenvorplatz mit der breiten Freitreppe dort angelegt.
Der nördlich der Kirche gelegene Teil des Friedhofs grenzte an eine schmale Gasse, die sogenannte Lange Nacht, deren östlicher Teil heute noch in der Pfarrgasse erkennbar ist. Dort wo heute die frühere Grundschule steht, befanden sich 7 Häuser mit Nebengebäuden, die 1852 angekauft und abgerissen wurden, um dort die neue Schule zu bauen.
Dingelstädt hatte 1690 etwa 900 Einwohner, für die die damalige Kirche wohl ausreichte. Das 18. Jahrhundert brachte aber mit dem Aufblühen des Wollgewerbes im Obereichsfeld einen enormen Bevölkerungszuwachs. Neben den Hauswebern waren es in Dingelstädt vor allem die Wollkämereien und später auch die mechanischen Spinnereien, die vielen Menschen Arbeit boten. In den 100 Jahren bis 1800 hatte sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt, Dingelstädt hatte schon über 2.000 Einwohner. Als 1802 das Eichsfeld zu Preußen kam, gab es schon damals Bestrebungen, Dingelstädt zur Stadt zu erheben, da es durch sein bedeutendes Textilgewerbe eine gute Einnahme für den Fiskus durch die erhobene Akzise versprach. Diese wurde aber in Preußen nur in Städten erhoben und nicht auf dem flachen Lande. Die Königlich-Eichsfeldisch-Erfurtische Kriegs- und Domänenkammer mit Sitz in Heiligenstadt hatte aber was dagegen, und so erließ man, wie das ja bis heute auch immer noch vorkommen soll, eine Ausnahmegenehmigung, und erhob eben auch in dem Marktflecken Dingelstädt die Akzise. Für das Jahr 1804, in dem diese Steuer im Eichsfeld erstmals erhoben wurde, betrug sie in Dingelstädt 4.577 Taler; zum Vergleich: in Heiligenstadt wurden 6.320 Taler und in Worbis 3.331 Taler erhoben.
Bis 1850 wuchs die Einwohnerzahl dann nochmals um 1.000. Nach der amtlichen Erhebung vom 5. Dezember 1849 hatte Dingelstädt 3.131 Einwohner, davon 45 evangelische Christen und 3.086 Katholiken.
Für diese reichte die kleine Dorfkirche nun schon lange nicht mehr aus, und so faßte man 1848 den Beschluß die alte Kirche abzureißen, und an ihrer Stelle eine neue, größere Kirche zu errichten, die den Bedürfnissen der Gemeinde auch noch in späteren Jahren gerecht werden sollte.
Nach dem Entwurf des Kreisbauinspektors Lünzner erstellte der Heiligenstädter Zimmermeister Adelbert Fütterer 1850 einen Kostenvoranschlag, der die Kosten des Neubaues mit 29.700 Talern veranschlagte.
Am 14. April 1852, dem Mittwoch nach Ostern, feierte Dechant Göbel früh um 7.00 Uhr das letzte Hochamt in der alten Kirche. Danach wurde das Allerheiligste in feierlicher Prozession in die Marienkirche getragen und schon um 11.00 Uhr begann man mit dem Abbruch der Altäre und der anderen Einrichtungsgegenstände. Am 21. April wurde der Knopf des Turmes abgenommen und am 26. April wurden die Glocken in einem provisorischen Glockenstuhl am Riethstieg aufgehängt.
Die Bauleitung der neuen Kirche wurde dem Heiligenstädter Zimmermeister Adelbert Fütterer übertragen, die Maurerarbeiten führte der Maurermeister Lorenz Meister aus Martinfeld aus. Die Hand- und Spanndienste übernahmen Dingelstädter Einwohner.
Am 2. Juni wurde der erste Stein für das Fundament gelegt und am 10. August 1852, dem Laurentiustag, weihte Kommissarius Joseph Nolte unter Assistenz seines Nachfolgers Dr. Konrad Zehrt an der südöstlichen Ecke der Kirche den Grundstein.
Als Baumaterial wurde ein gelblicher, etwas weicher Muschelkalk, der sogenannte Mehlstein, verwendet. Er wurde bei Struth gebrochen und durch Dingelstädter Bauern an den Sonntagen zur Baustelle gefahren. Gesimse, Pfeiler, die Maßwerke der Fenster und die Verblendung der Hauptfassade bestehen aus Arenshäuser Bundsandstein.
Die dreischiffige Gertrudenkirche ist im neugotischen Stil erbaut. Sie hat eine Länge von 50 m und eine Breite von 22 m. Im Chor beträgt die Höhe 19 m, über dem Portal 21 m. Das erhöhte Mittelschiff wird von 10 Pfeilern getragen. Das nach Norden liegende Chor hat die Form eines Achtecks. Ein mit blauschwarzen Ziegeln gedecktes Satteldach mit geradlinigem Abfall überspannt alle drei Schiffe der Kirche. Imposant ist die nach Süden gerichtete Fassade, die – den drei Kirchenschiffen entsprechend – dreigeteilt ist. Der mittlere Teil, war als Unterbau für den ursprünglich geplanten gotischen Turm gedacht und wird daher von vier gewaltigen Strebepfeilern begrenzt. Zur Errichtung dieses Turmes wurden im Laufe der Jahre immer wieder Initiativen ergriffen, der Bau ist aber nie zur Ausführung gekommen. Anfänglich war es sicher Geldmangel, der den Bau des Turmes verhinderte. Da die geplanten Kosten schon um ca. 6.000 Taler überschritten waren, wurde zunächst ein mit Zinkblech bedeckter Notturm errichtet, der später mit Ziegeln eingedeckt wurde. Bei diesem Provisorium ist es bis heute geblieben, so daß Franz Huhnstock mit seiner Bemerkung – „Daen Dingelstädtern ehre Kerchen siet us wie enne Kaffemilln“ – sicher nicht ganz unrecht hat. Später waren es neben dem Geldmangel auch bautechnische Probleme, die der Vollendung des Kirchturmes entgegenstanden.
Geweiht wurde die Kirche am 11. Oktober 1855 durch den Paderborner Weihbischof Joseph Freusberg. Pfarrer Laurentius Göbel, der wesentlich zur Errichtung der Kirche beigetragen hatte, verstarb bereits wenige Monate nach der Weihe der Kirche im Februar 1856, so daß es seinem Nachfolger Eduard Arend, ebenfalls wie sein Vorgänger gebürtig aus Heiligenstadt, vorbehalten blieb, für die Innenausstattung der Kirche zu sorgen.
Vieles war in den Anfangsjahren, ebenso wie der Kirchturm, nur ein Provisorium. So bestanden z.B. die beiden Seitenaltäre nur aus einem Holzgestell, welches mit bemalter und mit Goldborte verzierter Pappe bespannt war. So nach und nach wurde die Kircheneinrichtung aber vervollständigt. Schon 1858 wurde eine Orgel vom Orgelbauer Randebrock aus Paderborn eingebaut. Die zahlreichen Statuen und der Kreuzweg wurden von dem Münchener Bildhauer Keil geschaffen. Der Kreuzweg wurde 1882 durch Kommissarius Dr. Konrad Zehrt geweiht.
Die Chorfenster wurden vom Hofglasermeister Hertel aus Düsseldorf 1885 unter Pfarrer Anton Thraen eingebaut. Die Fenster der Seitenschiffe, die acht Seligkeiten darstellend, kamen erst im Jahre 1911 unter Pfarrer Christoph Leineweber hinzu. Sie wurden ebenfalls durch die Glaserei Hertel aus Düsseldorf geliefert.
An der Kirche zeigten sich schon bald erhebliche bauliche Mängel. Fehler in der Konstruktion und vor allem eine mangelhafte Bauausführung machten sich schon bald nach der Fertigstellung bemerkbar. 1866 erstellte der bekannte Baumeister, Franziskanerbruder Paschalis Gratze – von dem u.a. die Kirche auf dem Kerbschen Berg und der Eichsfelder Dom in Effelder stammen – ein Baugutachten. Darin heißt es u.a.: „Wer baut denn Pfeiler in einer Kirche, die eine schwere Mauer und Gewölbe zu tragen haben, aus solchen Abfällen von Steinen? Die Sockel der Pfeiler sind mit Sandsteinen im Äußeren verblendet, der Kern ist mit kleinen Steinen und Kalk ausgeschlagen. Auf solchem Gemäuer wird dann immer weiter gearbeitet. Die Belastung auf dem unteren Machwerk wird immer mehr. Der noch nicht trockene Kalk drückt sich zusammen, die äußeren Sandsteine aber nicht und so haben sie die ganze Wucht des Pfeilers zu tragen.“ – Soweit das Zitat.
Auch die äußeren Strebepfeiler, die außen mit Muschelkalkquadern verblendet sind, sind im Inneren mit Kalk und Gesteinsabfall gefüllt. Dabei sind beim Setzen der Steine und dem Abbinden des Kalks Hohlräume entstanden, die sich für das Bauwerk als verhängnisvoll erweisen sollten. In diese Hohlräume drang Wasser ein, welches bei starkem Frost gefror und dadurch sogar Muschelkalkquader sprengte. Da diese Strebepfeiler nicht genug Standfestigkeit hatten drückte das schwere Dach die Mauern nach außen, so daß die gesamte Kirche verankert werden mußte, das geschah in den Jahren 1897 bis 1900.
Die Beseitigung dieser Baumängel dauerte bis zum Jahre 1910 und hat sehr viel Geld gekostet.
Aber auch danach wurde die Kirche mehrfach renoviert und baulich verändert.
1930 wurde eine neue Orgel eingebaut, die damals etwa 36.000 Mark kostete. Die Pfarrgemeinde brachte dazu 30.000 Mark auf. Pfarrer Christoph Leineweber stellte beim Magistrat der Stadt einen Antrag auf einen Zuschuß, der aber von der damaligen Stadtverordnetenversammlung mit dem Bemerken: „Wer die Musik bestellt, soll sie auch bezahlen“. abgewiesen wurde. Und so steuerte Pfarrer Leineweber das fehlende Geld privat bei und ist als Stifter an der Orgel verewigt.
Übrigens steht zur Zeit eine Renovierung der Orgel an. Es ist dafür eigens ein Orgelbauverein gegründet worden und seit etwa 7 Jahre wird eifrig dafür gesammelt. Bis jetzt sind schon über 125.000 Euro an Spenden eingegangen, aber es reicht immer noch nicht. Die Sanierung soll laut Kostenvoranschlag etwa 200.000 Euro kosten.
Die erste größere Umgestaltung des Kircheninneren fand in den Jahren 1954 bis 1956, zum 100. Geburtstag der Kirche, unter Dechant Theodor Helbing statt. Der barocke Hauptaltar wurde entfernt, und die Kreuzigungsgruppe, die sich bis dahin am 1. Pfeiler im Hauptschiff befand, krönte nun den Hauptaltar. Einige Heiligenstatuen wurden im Turm verstaut, andere wurden entfärbt und fanden wieder in der Kirche ihren Platz. Aber auch bei dieser Renovierung blieb vieles nur ein Provisorium, diesmal allerdings in erster Linie dem Materialmangel geschuldet. So bestanden die Verkleidungen des Hauptaltars ebenfalls nur aus bemaltem Holz. Das war aber so gekonnt gemacht, das es keinem Kirchenbesucher, der nicht den Altar direkt untersuchte, auffiel. Selbst mir als Dingelstädter und langjährigem Ministranten in dieser Kirche, wurde es erst im vorigen Jahr beim Abriß des Altars bekannt.
Im letzten Jahr wurde nun der 150-jährigen St. Gertrud die letzte Verschönerungskur verpaßt. Über das Ergebnis können sie sich heute selbst ein Bild machen. Mir persönlich gefällt dieser Gottesdienstraum sehr gut, auch wenn ich vor allem die Kanzel vermisse, die nach meinem Verständnis zur Kirche gehört, auch wenn sie in den letzten Jahren kaum noch genutzt wurde. Die Kirche ist wesentlich heller und freundlicher geworden, ältere Einrichtungsgegenstände, wie z.B. die Zunftstäbe fanden wieder ihren Platz und die Statuen werden nach und nach auch wieder in ihrer ursprünglichen Farbigkeit erstrahlen.
Das optische und historische Erscheinungsbild einer Kirche ist aber nur das Eine. Wesentlicher ist, was dieses Gotteshaus für unsere Gemeinde bedeutet. Wir besingen die Kirche in einem der beliebtesten Kirchenlieder als Gottes Zelt auf Erden, also einen Ort, wo wir Gott begegnen können. Sie ist ein wesentliches Stück irdischer Heimat und sie ist auch ein Zeichen, das auf die ewige Heimat hinweist – hier verbinden sich Himmel und Erde.
Sie ist aber auch der Versammlungs- und Begegnungsraum unserer Gemeinde – und dies müßte sie sicher wieder mehr werden. Zu viele fühlen sich von Gott, oder soll ich sagen, den Formen wie wir Gott den Menschen nahe bringen, nicht mehr angezogen. Und hier sehe ich nicht nur für die Hauptamtlichen in unseren Kirchen viel Arbeit. Wir alle, die wir uns Christen nennen, haben die Aufgabe, dieses Haus aus Stein mit Leben zu erfüllen, dass es eine lebendige Kirche wird.
Höhenmarke: 336,62 m NN
Figuren im Chor:
St. Elisabeth, St. Bonifatius, Patrone des Bistums Erfurt
Figuren im Hauptschiff:
St. Martin, Patron des Eichsfeldes
St. Liborius, Patron des Bistums Paderborn
St. Jakobus (mit Pilgerstab und Muschel)
St. Philippus (mit Kreuz)
St. Matthäus (Evangelist)
St. Bartolomäus (mit Schlachtemesser)
Zunftstäbe:
St. Bartolomäus (mit Schlachtemesser) – Fleischer (Knochenhauer)
St. Josef (neu, mit Hobel) – Tischler
St. Sturmius (neu, mit Weberschiffchen) – Weber (Bischof in Fulda)
St. Crispinus und Crispianus, Brüder (Schuh, Schustermesser oder Ahle) – Schuhmacher
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